Die Medizinorganisation Heal Africa hat in ihrer ganzheitlichen Gesundheitsauffassung seit Jahren in den Dörfern „Nehemia-komitees“ ins Leben gerufen. Man hat Nehemias Namen gewählt, weil er beim Aufbau von Jerusalem und eines geordneten neuen Stadtlebens massgeblich beteiligt war. Diese Komitee vereinigen eine Reihe von Dorfverantwortlichen – Muslime und Christen – Beamte und andere wichtige Leute. Zur Hauptsache haben sie sich zum Ziel gesetzt, Konflikte zu bearbeiten und zu lösen, und sich für die Einhaltung von Menschenrechten stark zu machen. Sie setzen sich ein für die Wiederaufnahme in die Gesellschaft vergewaltigter Frauen und für eine Neuverteilung von Erbgütern an Witwen, die bisher leer ausgingen.
Zum vereinbarten Treffen brauchen wir eine Fahrt von ungefähr anderthalb Stunden. Die Strassen sind allerdings so, dass sie die besten 4x4 Fahrzeuge auf eine harte Probe stellen. Wir fahren steil nach oben in Meereshöhen zwischen 2000 und 2500m. Wir sind froh, dass Pfarrer Bolingo alles aufs Beste organisiert hat. Bolingo trägt die logistische Verantwortung für unseren Kurs (er wurde im Frühjahr 2014 in die Kursleiterausbildung aufgenommen). Er klärt uns auch darüber auf, dass derzeit 131 Dörfer mit Nehemia-komitees arbeiten und sich so aktiv für Friedensstrukturen einsetzen.
Wir werden herzlich empfangen und zur „Friedenshütte“ begleitet. Die Männer setzen sich in zwei Halbkreisen vor uns, hinter ihnen breitet sich die packend schöne Landschaft aus. Wir realisieren, dass Frauen fehlen und sind erstaunt. Man weist uns dann darauf hin, dass zu diesem Zeitpunkt die meisten Frauen auf dem Markt tätig sind. Wenigstens eine stösst dann noch zu uns.
Wir erfahren, dass im Dorf Karuba mehrere Personen angefangen haben, sich für die Umsetzung der Menschenrechte zu interessieren. Damit war der Boden für die Schaffung eines Nehemia-komitee bereitet. Sie berichten uns mit Stolz und Begeisterung aus der Arbeit dieser ersten Jahre! Sie sind sogar um 2010, als die finanzielle Unterstützung von aussen zu Ende ging, zum Entschluss gekommen dieses Gemeinschaftswerk ohne Zuwendung von aussen weiterzuführen!
Sie haben sich selbst eifrig darin geübt, Konflikte zu bearbeiten und zu lösen: bei Schwierigkeiten zwischen Ehepartnern, Familienstreitigkeiten, Stammesfehden, Erbkonflikten und bei der Durchsetzung von Rechten für Frauen. Die zahlreichen, gelungenen Schlichtungen beleben ihren Eifer immer aufs neue und schaffen neuen Motivation. Im weitern berichten sie:
- wie sie Leute begleiteten, die von der Polizei zu Unrecht beschuldigt wurden, was im Congo leider oft geschieht. Heute gehen sie auch mit Verurteilten ins Gefängnis und überprüfen, ob jemand zu Recht eingekerkert ist oder nicht. Die Erfolge bei diesen Begleitungen sind sehr ermutigend! „Das Recht ist bei uns wiederhergestellt!“.
- anfänglich empfingen die Kinder der Hutus keine Schulbildung. Auch dies hat sich durch die Aktivität des Komitees deutlich geändert!
- früher wurden Frauen, die eine Gewalterfahrung gemacht hatten, aus der Gesellschaft verstossen. „Nach der Ausbildung im Komitee wurde mir klar, dass solche Frauen Opfer schlimmer Vorkommnisse sind und ab sofort das Recht haben, in einer Familie aufgenommen zu werden“.
- wenn wir in einem Konflikt beigezogen werden, machen wir den Leuten zuerst klar, dass wir keine Richter, sondern Schlichter oder Versöhner sind. Wir reden erst aufmerksam mit beiden Parteien. Dann schauen wir uns das Umfeld an und hören gut, was man uns alles erzählt, um die Gründe für den Konflikt zu verstehen. Wir versuchen auf die Herzen zu achten. Dann bringen wir sie schliesslich zusammen und arbeiten mit ihnen beiden an einer Lösung, die möglichst für beide günstig ist.
- heute arbeiten wir weiter an dieser Kultur und erhalten zunehmend Anfragen von umliegenden Dörfern, die eine ähnliche Arbeit bei sich einbürgern wollen.
Ein letzter Zwischenfall dokumentiert uns die Bedeutung des eben Gehörten! Bei unserer Heimkehr werden wir am Dorfausgang von der Polizei angehalten. Die Polizisten benehmen sich aggressiv. Es ist eindeutig, sie wollen ein paar Dollar! Wenig später haben uns die Leute vom Komitee eingeholt. Die Stimmung ändert schlagartig! Nichts mehr von Forderungen nach Geld, im Gegenteil, es kommt eine beinahe fröhliche Stimmung auf! Von Bedrohung keine Spur mehr!
Wenn Sie an dieser Lektüre Freude gefunden habe, mögen Sie vielleicht noch einen weiteren Bericht von Jean-Claude Schwab kosten!
R e a l i t ä t s p r ü f u n g.
Es ist Sonntag, 16.November. Zurück in meinem Zimmer geniesse ich um 14.30 eine Mittagsruhe. Mein Blick fällt auf den wunderschönen See und ich habe Zeit auf das Erlebte zurückzuschauen. Am Vormittag hatte ich erst den Gottesdienst bei Heal Afrika besucht und danach noch denjenigen der Kirche von Sophonie Kasiki, unserer Kursteilnehmerin. Was ich in diesem Gottesdienst sagen wollte, hatte ich am Samstagabend spät noch vorbereitet. Wie ich auf die Kirche von Sophonie zuging, kamen mir Zweifel über das, was ich vorbereitet hatte. Ich wollte von der Ohnmacht reden, die in uns aufkommt, wenn wir vor unüberwindlichen Bergen von Leid stehen. Äusserlich wurde der Weg immer steiler und enger, die Häuser ihrerseits immer kleiner.
Dann die Kirche! Eine Baracke aus Holz und Blech. Sie ist vor einem Jahr einer Feuersbrunst zum Opfer gefallen. Mit den Resten wurde die Baracke errichtet. Die Bänke sind niedrig und unkonfortabel. Was sollte ich hier mit meiner komplizierten Botschaft?
Aber, es wird alles anders. Schon bei der Begrüssung entdecke ich eine Gemeinschaft von Menschen voller Aufmerksamkeit und Kraft! Es folgt ein Austausch über einen biblischen Text, den alle für diesen Sonntag gelesen haben (das ist die Regel hier). Ich staune wie Frauen und Männer – eins ums andere zum Mikrofon gehen und sich ausdrücken. Persönliches, theologisches, existenzielles, offene Fragen – und der Pfarrer gibt alle Fragen zurück an die Anwesenden! Noch nie habe ich ein dermassen reifen Austausch über einem Bibeltext erlebt wie hier! Ich bin sehr berührt!
Alle meine Vorbereitungen und Vorurteile schmelzen dahin wie Eis an der Sonne. Dann ist das Wort an mir und ich versuchs. So viele aufmerksame und gespannte Gesichter! Danach sagen mir ein paar junge Leute, sie hätten sehr gut verstanden, was ich sagen wollte! Auch die beiden anwesenden Kursteilnehmer geben ihre Zusammenfassung wider und ich staune nochmals über die Genauigkeit, wie sie in ganz wenigen Worten „meine“ jetzt auch „ihre Botschaft“ mit sich nehmen.
Auf dem Heimweg mache ich noch einen Besuch im Hause von Sophonie Kasiki! Die Familie mit fünf Söhnen ist für ein Jahr von Butembo (250 km nördlich von Goma) nach Goma gezogen. Der Familienvater hat die Möglichkeit für ein Jahr bei Heal Africa zu arbeiten, um sich weiterzubilden für seine Tätigkeiten in verschiedenen NGO. Für die ganze Familie ein grosser „Mutschritt“. Ich staune nochmals von Herzen und freue mich.
Jean-Claude Schwab